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Rosine Tuchschmid-Baumgartner – Die Frau an der Spitze einer Schlosserei

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren Frauen an der Spitze von Industrieunternehmen eine grosse Seltenheit. Meistens kamen sie beim Tod des Ehemannes an diese Stelle, um die Zeit bis zur Volljährigkeit des ältesten Sohnes zu überbrücken. Ersteres trifft auch auf Rosine Tuchschmid-Baumgartner (1861–1912) zu. Aufgrund ihres frühen Todes war die Zeit ihrer Unternehmensführung zwar kurz. Doch mit ihrem Durchhaltewillen und Geschäftssinn hat sie der Firma den Weg in die Zukunft ermöglicht.

 

Plötzliche Firmenübernahme

Als Jakob Tuchschmid (1858–1909) 1888 die Schlosserei seines Vaters in Frauenfeld übernahm, war er seit zwei Jahren mit Rosine, geb. Baumgartner (1861–1912) verheiratet. Sie stammte aus dem Glarnerland und kam als ausgebildete Primarlehrerin in die Ostschweiz. Doch fortan unterstützte sie ihren Mann im Büro der wachsenden Firma und sorgte für den Haushalt. Neben der Familie mit der wachsenden Kinderschar sassen jeweils auch die Lehrlinge am Mittagstisch, was die Verbindung zwischen Familie und Firma zusätzlich intensivierte. Am 3. Januar 1909 verstarb Jakob Tuchschmid nach längerer Krankheit mit gerade mal 51 Jahren und seine Ehefrau Rosine musste die Betriebsleitung übernehmen. Das Unternehmen wurde umfirmiert in «J. Tuchschmids Witwe». Zugunsten der neuen Verantwortung gab sie das Amt in der Frauenkommission der Arbeits- und Töchterbildungsschule auf.

Verantwortung für Firma und Familie

Rosine Tuchschmid hatte zwar in ihrem Nachbarn, dem Baumeister Hans Mötteli, als Vormund ihrer Kinder einen vertrauten Ratgeber, aber sie trug nun die ganze Verantwortung für die Firma und die Familie. Sie hatte zwei Töchter und drei Söhne, wobei der jüngste Sohn beim Hinschied ihres Ehemannes erst 12-jährig war. Die ältere Tochter, die damals 20-jährige Rosa, arbeitete seit dem Tod des Vaters im Büro mit. Sie hatte ihr Welschlandjahr abbrechen müssen, um ihre Mutter zu unterstützen. Den anderen Kindern aber ermöglichte Rosine Tuchschmid eine solide Ausbildung und weiterführende Schulen, damit sie für das spätere Leben gut gerüstet waren.

Eine starke Frau in einer Männerwelt

Rosine Tuchschmid musste sich sowohl um die Auftragseingänge kümmern als auch die Auftragsabwicklung koordinieren und die Buchhaltung führen. In der Werkstatt konnte sie auf zwei erfahrene Meister zählen, die bereits von Jakob Tuchschmid eingestellt wurden. Doch immer wieder musste sie bei Meinungsverschiedenheiten zwischen dem jungen, temperamentvollen Jakob Kubli und dem altgedienten Walter Hasenfratz schlichten. Auch wurden bald die finanziellen Mittel knapp, sodass sie den letzten Besitz der Familie in Thundorf, zwei Waldstücke, verkaufen musste. Nach einem Streit mit einem anderen Schlossermeister um eine Preisofferte wollte Rosine Tuchschmid aus der Schlosserinnung austreten. In ihrem Schreiben an den Präsidenten stellte sie dann aber nicht ohne Humor fest, dass ein Austritt gar nicht nötig sei, da ja eine Frau nicht Mitglied sein könne.

Kräftezehrende Aufgaben

Betriebliche Veränderungen gab es in der kurzen Führungszeit von Rosine Tuchschmid nicht. Die ursprünglichen Holzkochherde wurden nur noch selten gefertigt, dagegen vielfältige Schlosserarbeiten wie Eisengeländer oder Eisengittertore. Die Spezialisierung auf Eisenkonstruktionen hielt an. So konnte sie im Januar 1912 den Auftrag zur Lieferung von Perrondächern für die Bahnhöfe Uttwil, Güttingen und Altnau am Bodensee übernehmen. Währenddessen kam sie immer mehr ans Ende ihrer Kräfte. Im April desselben Jahres sah sie sich gezwungen, die Firmenleitung ihrer Tochter Rosa zu übertragen. Bereits am 20. Juni 1912 verstarb Rosine Tuchschmid-Baumgartner im Alter von nur 50 Jahren.