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Michael Kohn – Der Energiepapst

«Kraftwerke zu bauen war in diesen Zeiten eine vaterländische Mission», schilderte Michael Kohn (1925–2018) rückblickend die 1950er Jahre. Pragmatisch wurde der Bau von Pumpspeicherkraftwerken und später von Kernkraftwerken angegangen. Kohn erlebte aber auch die Anti-AKW-Bewegung mit beruflichen Niederlagen und persönlichen Anfeindungen. – Eine spannende und lehrreiche Biographie in Zeiten, in denen Energiemangellage zum Wort des Jahres gekürt wird, der Atomausstieg beschlossene Sache ist und die EU die Kernenergie trotzdem als nachhaltig einstuft.

 

Materialwissenschaften und Staumauern

Michael Kohn studierte nach dem Gymnasium in Zürich Bauingenieur an der ETH. Im Anschluss daran fand er eine Stelle bei der Empa, wo er sich mit der Statik von Ziegelsteinen und Beton befasste. Der Bau von Staudämmen und Staumauern boomte, was für Kohn anspruchsvolle und vielseitige Arbeitsaufträge bedeutete. Einer war die Prüfung der Konstruktionspläne für die Zervreila-Staumauer, die ihn mit der Firma Motor-Columbus in Kontakt brachte. Diese warb ihn kurzerhand ab, um ihn in der Bauleitung des Zervreila-Projekts zu engagieren.

Motor-Columbus und die Atomenergie

Ab 1964 gab es bei Motor-Columbus eine Abteilung für Atomenergie. Damals wurde die Kernkraft als die neue, umweltschonende und wahrhaft moderne Energiequelle wahrgenommen. Es war Michael Kohn, der im Verwaltungsrat darauf drängte, keine Zeit und damit womöglich den Anschluss an die Konkurrenz zu verlieren. Zur wichtigsten Frage wurde neben der Wahl des Reaktortyps die Klärung des Standorts. Dabei konnte man auf die lokale Unterstützung zählen, wie es sich etwa in Beznau zeigte, wo die Konkurrentin Nordostschweizerische Kraftwerke NOK (heutige Axpo) ein Kernkraftwerk plante. Der zuständige Gemeinderat von Döttingen zeigte sich nämlich hocherfreut darüber, als Standort für die erste Anlage dieser Art in der Schweiz ausersehen zu sein.

Das Fiasko Kaiseraugst

Im Frühjahr 1966 stellte Motor-Columbus sein Kernkraftprojekt in Kaiseraugst der Öffentlichkeit vor. Dabei notierte Michael Kohn: Die Stimmung war uns wohlwollend geneigt, und man darf wohl sagen, dass wir politisch gelandet sind.» In der Tat hiess die Bevölkerung in mehreren Abstimmungen das Projekt gut. Doch kippte die Stimmung in den folgenden Jahren. Es kam zu öffentlichen Protesten, Besetzungen und sogar zu einem Brandanschlag auf den Informationspavillon. Gleichzeitig verzögerten und verteuerten technische Gutachten das Projekt. Schliesslich bedeutete die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 das definitive Aus für Kaiseraugst.

Gösgen: der erfolgreiche «Plan B»

Während das geplante AKW Kaiseraugst vom Hoffnungsträger zum Problemfall mutierte, wurde nicht weit davon ein Projekt vorangebracht, das eigentlich als «Plan B» für Kaiseraugst gedacht war. Dank besserer Öffentlichkeitsarbeit und einer pragmatischen Standort- und Energiepolitik entwickelten sich im solothurnischen Gösgen die Dinge ganz anders. 1966 begann Motor-Columbus mit den Planungsarbeiten. Michael Kohn engagierte sich als Leiter der Atomabteilung vor allem auch in der Information der Bevölkerung.

Breite Unterstützung führt zum Erfolg

Ein entscheidender Unterschied zu Kaiseraugst war, dass von Beginn weg die Trägerschaft stark in der Region verwurzelt war. Unter anderem wurde die Gewinnverteilung aus den künftigen Steuereinnahmen grosszügig auf zahlreiche Gemeinden festgelegt. Auch die Solothurner Regierung und mit ihr der pragmatische SP-Regierungsrat und spätere Bundesrat Willi Ritschard standen hinter dem Projekt. Schliesslich konnte nach einer Bauzeit von 1973 bis 1978, das Kernkraftwerk Gösgen Ende 1979 in Betrieb genommen werden.