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Schweizer Pioniere: jung und gut ausgebildet

Zum Wohlstand eines Landes tragen alle bei, aber eine Gruppe sticht dabei besonders hervor: die Unternehmerinnen und Unternehmer. Die politischen Rahmenbedingungen können noch so ideal und die Belegschaft noch so motiviert sein, die Wirtschaft entwickelt sich nur, wenn es immer wieder Leute gibt, die etwas riskieren und Innovationen zum Erfolg führen.

Die schweizerische Unternehmensgeschichte wird seit 1955 vom Verein für wirtschaftshistorische Studien dokumentiert. Die historischen Porträts reichen von den Mönchen des Mittelalters und den Textil- und Uhrenindustriellen des 16. und 17. Jahrhunderts bis zum Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler und dem Filmpionier Heinrich Fueter im 20. Jahrhundert.

Mittlerweile sind 99 Bände erschienen und 272 Personen porträtiert worden. (hier eine Übersicht über alle Porträts) Für wirtschaftshistorisch Interessierte ist die Reihe eine wahre Fundgrube. Im Gegensatz zu akademischen Geschichtsbüchern, die grossen Wert auf die Beschreibung von überpersönlichen Kräften legen, kann man hier nachverfolgen, wie einzelne Personen Geschichte geschrieben haben.

Der hundertste Band, von Joseph Jung herausgegeben, versucht nun, gemeinsame Merkmale der 272 porträtierten Schweizer Pioniere herauszuarbeiten. Die historische Auswertung ist aufschlussreich. Am bemerkenswertesten ist zweifellos, dass die meisten grossen Unternehmen, die heute im Swiss Market Index (SMI) aufgeführt sind, im jungen Bundesstaat (von 1848 bis Ende der 1860er-Jahre) gegründet wurden. Jung spricht von einem «wirtschaftsliberalen Zeitfenster», in dem die «Voraussetzungen für den heutigen Erfolg» geschaffen wurden.

Es war die Zeit des Eisenbahnbaus, der ETH-Gründung und des „Systems Escher“. Wie kein anderer vor oder nach ihm dominierte der Zürcher Alfred Escher (1819-1882) Politik und Wirtschaft. Es gab keine direkte Demokratie und keine Verbände, kein Verbot gegen Ämterkumulation und keine Karenzfristen. Die Wirtschaftsliberalen hatten freie Bahn. Ende der 1860er Jahre kam diese Epoche an ihr Ende. Die „Demokraten“ opponierten mit Erfolg gegen das „System Escher“ und setzten die direkte Demokratie durch, zuerst in einigen Kantonen, dann auf Bundesebene. Auch die Gründung von staatlichen Kantonalbanken war ein wichtiges Anliegen, das die Demokraten mit Erfolg durchsetzten. 1874 kam es zu einer grossen Verfassungsrevision auf eidgenössischer Ebene. Jung: „Die politische Kultur in der Schweiz hatte sich grundlegend geändert.“ Es ist die politische Schweiz, die wir heute kennen.

Diese hohe Konzentration von Gründungen in den 1850er- und 1860er-Jahren bringt es automatisch mit sich, dass der Anteil von reformierten Männern besonders hoch war, Zürich als Standort für Unternehmensgründungen dominierte und viele Unternehmer Politiker waren und im Militär Karriere machten. Im jungen Bundesparlament waren liberale Abgeordnete, die in der Wirtschaft tätig waren, sogar in der Mehrheit. Heute bilden sie nur noch eine kleine Gruppe.

Unternehmenspionierinnen gab es durchaus, etwa Susanna Orelli-Rinderknecht (1845–1939), die massgeblich an der Gründung des Zürcher Frauenvereins für Mässigkeit und Volkswohl (heute ZFV-Unternehmungen) beteiligt war. Aber ihr Anteil war lange Zeit sehr klein. Auch das hat sich mittlerweile geändert.

Von zeitloser Gültigkeit dürften hingegen folgende Ergebnisse sein: Die Pioniere stammten aus allen sozialen Schichten, waren nicht selten Einwanderer, genossen meist eine gute Ausbildung (d.h. mindestens eine Berufslehre) und begannen ihren Erfolgsweg in jungen Jahren. 35 Prozent gründeten ihr Unternehmen, als sie zwischen 20 und 30 Jahre alt waren, und 41 Prozent, als sie zwischen 30 und 40 Jahre alt waren. Ein Pionier hat sein Unternehmen sogar im Alter von 16 Jahren gegründet: Armand Dufaux (1883-1941). Zusammen mit seinem älteren Bruder entwickelte er einen leichten Explosionsmotor, der wie eine Tasche an eine Fahrrad an ein Velo montiert werde konnte („Motosacoche“).

Fazit: Die Gründung von Pionierunternehmen ist nicht nur einigen wenigen Privilegierten gelungen. Im Prinzip haben alle eine Chance, wenn sie sich gut ausbilden lassen und früh genug anfangen.