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Die Kanonen-Pioniere und das verkannte Genie

Wie Schweizer ihren Erfindungsreichtum für fremde Armeen einsetzten

Schweizer kämpften nicht nur während Jahrhunderten in fremden Armeen, findige helvetische Geister konstruierten auch Waffen für diese Armeen. Der neuste Band der Reihe «Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik» porträtiert unter dem Titel «Waffentechniker und Strategen von Weltruf» Schweizer Auswanderer, die als Berater und Ingenieure Geschichte geschrieben haben.

Berner sind darunter stark vertreten, zum Beispiel mit der Giesser-Familie Maritz, die ihre Wurzeln in Burgdorf hatte. Der 1680 geborene Johannes Maritz erfand 1714 ein revolutionäres maschinelles Bohrverfahren für Geschützrohre. Unter anderem führte dies zu einer grösseren Präzision beim Schiessen und zu einem geringeren Gewicht, wie der Autor Hans R. Degen schreibt.

Zusammen mit seinem Sohn Jean übernahm Johannes Maritz 1734 eine Giesserei in Lyon. Ein zweiter Sohn, Samuel, entwickelte das Genfer Wasserpumpwerk und betätigte sich auch als Glockengiesser. Samuel Maritz war es auch, der ab 1751 für den Kanton Bern mehr als 300 Geschütze produzierte. Sogar Kaiser Joseph II. von Österreich soll sich 1777 bei seinem Besuch in Bern brennend für die Kanonen interessiert haben. In Frankreich waren in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 26 Maritz-Bohrmaschinen installiert, 3000 Geschütze wurden so hergestellt, die später auch von Napoleon auf den Schlachtfeldern Europas verwendet wurden. Eine originale Kanone aus dem Jahr 1759 befindet sich heute im Schlossmuseum Burgdorf. In der Emmestadt ist auch eine Strasse im Neumattquartier nach der Giesser-Dynastie benannt. Das Andenken wach hält zudem die Maritz-Batterie, welche in historischen Uniformen an Gedenkveranstaltungen für Geknalle und Pulverdampf sorgt.

«Der Vater des Hinterladers»

Samuel Johann Paulis Geschichte dagegen ist die eines verkannten Genies. Seine Familie stammte aus Vechigen, er selber dürfte aber 1766 in Bern geboren worden sein. Er arbeitete als Wagenbauer und Mechaniker in der Werkstatt seines Vaters. Im Kampf gegen die Franzosen verstiess Pauli 1798 nach der Schlacht am Grauholz gegen das Kriegsrecht. Während der Übergabeverhandlungen feuerte er noch eine Salve ab, welche zwei Franzosen niederstreckte.

1803 reiste er nach Paris. Pauli sei dort, so heisst es im Band, die wohl bedeutendste Waffenerfindung des frühen 19. Jahrhunderts gelungen. Er entwickelte das erste Hinterladergewehr mit Patrone, die durch einen Schlagstift gezündet wurde. Pauli konnte seine bahnbrechende Waffe Offizieren der französischen Armee demonstrieren, ein Minister und General empfahl sie sogar mit begeisterten Worten; doch die zuständige Kommission blieb trotz überzeugenden Versuchen skeptisch und lehnte die Beschaffung ab.

«Die Waffe sei zu anspruchsvoll für die meist kaum geschulten und zwangsweise rekrutierten Bauern, die Napoleons Massenheere bevölkerten», schreibt Degen dazu. Pauli zeigte sich bitter enttäuscht über den Misserfolg. Die hochwertige Waffe konnte jedoch nicht massenhaft hergestellt werden und war entsprechend kostspielig. Pauli ging aber als «Vater des Hinterladers» in die Geschichte der Waffentechnik ein. Seine Erfindung kann als Vorläufer der modernen Schusswaffen angesehen werden.

1814 versuchte Pauli sein Glück in London. Er nannte sich nun Samuel John Pauly und verfolgte sein früheres Projekt für ein steuerbares Luftschiff weiter, das zehn Passagieren Platz bieten sollte. Er wollte ein Luftverkehrsnetz zwischen London und dem Kontinent einrichten. Die Hülle seines Dolphin genannten Fluggeräts bestand offenbar aus den Gedärmen von 70’000 Ochsen und war rund 37 Meter lang.

Auch hier schien der Berner der Zeit voraus zu sein. Seine Visionen wurden erst später realisiert, Lob und Erfolg heimsten andere ein. Napoleon selber soll über Paulis Waffen gesagt haben: «Erfindungen, die ihrer Zeit vorangehen, bleiben ungenutzt, bis das Allgemeinwissen dasselbe Niveau erreicht hat.» Der Berner verstarb 1821 in Armut, er wurde auch schon als Berner Leonardo da Vinci bezeichnet.

Die Männer und die böse Linth

Alois Negrelli ist einer der grossen Linth-Ingenieure. Auch in Zürich hinterliess er Grosses, zum Beispiel die Münsterbrücke.

Die wilde Linth treibt im Ancien Régime eine Landschaft zum Wahnsinn: Ihr Geschiebe bringt die angeschlossenen Gewässer durcheinander. Weesen ist fast unbewohnbar, Walenstadt massiv bedroht. Auch die Schifffahrt vom Walensee zum Zürichsee leidet; allein schon deswegen hat man auch in Zürich ein vitales Interesse, das Problem in den Griff zu bekommen.

Ein Name, der hier fallen muss: Hans Konrad Escher. Geboren 1767 in eine grossbürgerliche Zürcher Familie, wird er die zentrale Figur der Linth-Sanierung mit Linthkanal und Escherkanal. Das Ensemble aller baulichen Vorrichtungen nennt man Linthwerk. Es ist eine Art bundesstaatliche Leistung, bevor es einen Bundesstaat gibt.

Freilich ist dieses Linthwerk nie vollendet, wie auch uns Heutigen klar ist angesichts verheerender Hochwasser-Episoden vor Jahren. Im 19. Jahrhundert ist der berühmte Escher einer aus einer ganzen Reihe von Figuren, die mit der Linth beschäftigt sind. Eine neue Publikation behandelt alle diese historischen Kommissäre, Funktionäre und vor allem Ingenieure, die sich damals der Daueraufgabe Linth widmeten. Weil es mit Escher neun sind, darf man getrost vom «Neunerclub» reden.

Einige waren Zürcher, Salomon Hegner etwa aus Winterthur oder Heinrich Pestalozzi aus Zürich. Die interessanteste Gestalt neben Escher freilich war Habsburger. Doch auch dieser Alois Negrelli, 1799 bis 1858, ist eng mit Zürich verbunden. Und eben mit der Linth.

Zuerst zur Linth. Ingenieur Negrelli ist in seiner Zeit mit dem Sinken des Walensee-Wasserspiegels befasst. Damit verbunden ist ein juristisches und politisches Problem: Wem gehört das Neuland? Negrelli muss prognostizieren, wie sich die Uferlinie in der nächsten Zeit verändern wird. Und auch sonst leistet er viel für das Werk. 1840 lobt die Linthverwaltung, er habe seine Aufgaben erfüllt mit «einer bewundernswürdigen Aufopferung von Zeit und Mühe».

Spektakulär ist, was Negrelli in seinen Jahren in der Schweiz sonst so verwirklicht. Von St. Gallen aus erweitert er den Hafen Rorschach. Dann wirkt er ab 1836 in Zürich. Auf ihn geht die Münsterbrücke zurück. Aber auch die Ladengalerie aus Quintner Kalk unterhalb des Grossmünsters. Viel beachtet auch die Kornhalle auf dem Sechseläutenplatz, die später zur Tonhalle umgerüstet wurde, um 1896 abgebrochen zu werden. Ab 1845 wird unter Negrelli die erste Bahnstrecke der Schweiz gebaut, die Spanisch-Brötli-Bahn.

Negrellis Wichtigkeit spiegelt sich darin, dass in der Gegenwart die neue Fussgängerverbindung über die Geleise nah dem Zürcher Hauptbahnhof Negrellisteg heissen sollte. Allerdings ist das Projekt zurückgestellt. Macht nichts, der Mann ist ohnehin unvergessen.

Daniel Speich, «Herren über wildes Wasser. Die Linthingenieure als Bundesexperten im 19. Jahrhundert». Schriftenreihe «Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik», 88 S., viele Abbildungen. Ca. 27 Fr., Verein für wirtschaftshistorische Studien. www.pioniere.ch

Pionierunternehmen sind Industriebetriebe

Im Primärsektor (Urproduktion) ist lediglich ein Pionierunternehmen tätig. Zum Sekundärsektor (Industrie) gehören fast zwei Drittel der Pionierunternehmen, zum Tertiärsektor (Dienstleistung) rund ein Drittel.
Weitaus am meisten Pionierfirmen sind im verarbeitenden Gewerbe und mit der Herstellung von Waren beschäftigt. Exemplarisch dafür steht die Firma Suchard, die ein urschweizerisches Produkt herstellt: Schokolade. Das 1826 von Philippe Suchard (1797–1884) Bd. 1 | Bd. 56 | Bd. 89 gegründete Unternehmen bringt weltbekannte Marken wie Milka, Suchard Express und Sugus hervor. Nach der Fusion mit der Firma Tobler & Cie. 1970 stösst der Exportschlager Toblerone zum Produktesortiment. Heute gehört das Unternehmen zu Mondelēz International. Neben dem Lebensmittelsektor ist die Maschinenindustrie von grosser Bedeutung für die Schweiz. Prominentes Beispiel ist die 1876 von Peter Emil Huber (1836–1915) → Bd. 7 ins Leben gerufene Maschinenfabrik Oerlikon (MFO). Sie hat bedeutenden Anteil an der Eisenbahnelektrifizierung. Heute ist die MFO Teil des Weltkonzerns ABB.
Im Dienstleistungssektor dominiert die Verkehrsbranche. Durch das Eisenbahngesetz von 1852, das den Bahnbau privaten Gesellschaften überlässt, erlebt die Schweiz einen Eisenbahnboom. Innert kurzer Zeit entstehen in der Schweiz konkurrierende Eisenbahnunternehmen. Für den Anschluss Basels ans Eisenbahnnetz sorgt die Schweizerische Centralbahn, die 1853 von den Eisenbahn­pionieren Achilles Bischoff (1795–1867)  Bd. 18, Carl Geigy (1798–1861)  Bd. 18 und Johann Jakob Speiser (1813–1856)  Bd. 18 gegründet wird. Aber auch die Lüfte werden von Pionieren erobert. Der wagemutige Flugpionier Oskar Bider (1891–1919)  Bd. 46 gründet 1919 die Fluggesellschaft Ad Astra Aero, die 1931 durch eine Fusion in der Swissair aufgeht. Bider stürzt mit seinem Flugzeug ab und stirbt, als er bei tollkühnen Flugakrobatikmanövern die Kontrolle über seine Maschine verliert.
Nur ein Pionierunternehmen betätigt sich im ersten Sektor. Es handelt sich um die Versuchsstation und Schule für Obst-, Wein- und Gartenbau Wädenswil (heute Teil von Agroscope). Hermann Müller (1850–1927)  Bd. 29 ist erster Direktor der Versuchsstation. Als Rebenforscher macht sich Müller verdient und verewigt sich durch die von ihm gezüchtete Rebsorte «Müller-Thurgau».
Die Dominanz des Industriesektors, wie sie sich unter den Pionierunternehmen zeigt, repräsentiert die heutigen Wirtschaftsstrukturen der Schweiz nicht mehr. Der Industriesektor muss seine führende Position in den 1970er Jahren an den Dienstleistungssektor abtreten. Während um 1850 rund 10% der Erwerbs­­-
tä­tigen der Schweiz im Dienstleistungssektor eine Anstellung finden, sind es 1950 bereits 35%. Im Frühjahr 2011 beschäftigt der Tertiärsektor etwa 74% der Erwerbstätigen.

Pionierunternehmen expandieren ins Ausland

Der Schweizer Binnenmarkt lässt im Laufe des 19. Jahrhunderts ein organisches Wachstum der Betriebe oftmals kaum zu. Die Hälfte der Pionierunternehmen sehen sich deshalb gezwungen, ins Ausland zu expandieren, indem sie dort eine Niederlassung oder eine Tochtergesellschaft gründen. Zusätzlich werden damit auch neue Märkte erschlossen und weitere Innovationsimpulse gesetzt.
Das 1851 durch Carl Franz Bally (1821–1899)  → Bd. 2 gegründete Unternehmen Bally & Co. exportiert bereits in den Anfangsjahren Schuhe nach Südamerika. Durch die expansive Handelstätigkeit und den Ausbau des Beziehungsnetzes kommt es 1870 zur ersten Auslandvertretung in Montevideo, 1879 folgt Paris und 1881 London. Heute führt das Unternehmen weltweit rund 250 Filialen. Bally ist eine Tochtergesellschaft der österreichischen Labelux Group und hat ihren Hauptsitz im Kanton Tessin.
1845 beginnen Konditor David Sprüngli (1776–1862)  → Bd. 22 und sein 29-jähriger Sohn Rudolf Sprüngli (1816–1897)  → Bd. 22 mit der Herstellung von Schokolade. 1899 entsteht durch die Übernahme des Berner Traditionsunternehmens Lindt die Firma Lindt & Sprüngli. Es folgen erste Exporte bis auf den indischen Subkontinent. Die grosse Nachfrage nach Schokolade setzt aber erst in der Nachkriegszeit ein. Lindt & Sprüngli baut die Produktion im Inland aus und eröffnet 1947 die erste Auslandfiliale in Italien. Darauf folgen 1950 Deutschland und 1954 Frankreich. Seit 1986 ist die Lindt & Sprüngli AG an der Schweizer Börse kotiert. Heute betreibt die Firmengruppe Produktionsstätten in der Schweiz, Österreich, Frankreich, Italien, Deutschland und den USA. Vertriebsgesellschaften finden sich in verschiedenen europäischen Ländern sowie in Kanada, Australien, China und Mittelamerika.
In der vierten Generation expandiert das Unternehmen von Abraham Geilinger (1820–1880)  → Bd. 64 ins Ausland. Die 1845 in Winterthur gegründete Schlosserei und spätere Stahlbaufirma Geilinger & Co. beschränkt ihr Geschäft über 100 Jahre auf den Schweizer Markt. In einer Rezessionsphase der 1970er Jahre sucht das Unternehmen im Ausland neue Kunden und findet diese in Nord- und Westafrika sowie im Mittleren Osten. Dort baut die Firma unter anderem Stahlwerke, Kühlanlagen und Sportzentren. Erst in der fünften Generation expandiert der Landmaschinen- und Fahrzeugfabrikant Bucher ins Ausland. 1807 von Heinrich Bucher (1784–1850)  → Bd. 83 als Schmiede gegründet, entwickelt sich das Unternehmen durch Akquisitionen und Diversifizierung zu einem Grossunternehmen im Bereich des Maschinen- und Fahrzeugbaus, heute Bucher Industries. 1865 wird Gustav Adolf Hasler (1830–1900)  → Bd. 14 Teilhaber der Telegraphenwerkstätte Hasler & Escher. Sein Sohn Gustav Hasler (1877–1952)  → Bd. 14 baut sie zu einem internationalen Telekommunikationsunternehmen aus, heute Ascom.

Pioniere sind gut ausgebildet

Die Bildungshintergründe der Pioniere sind vielfältig. Eine Mehrzahl der Pioniere absolviert eine Berufslehre, viele haben einen akademischen Hintergrund, für einzelne endet die Ausbildung bereits nach der regulären Schulzeit. Das Spek-trum reicht von einer unvollständigen Primarschulbildung bei Emil Haefely (1866–1939)  → Bd. 30 bis hin zu einem Doppelstudium mit zwei Doktoraten in Agraringenieurwissenschaften und Wirtschaftsgeographie bei Werner Oswald (1904–1979)  → Bd. 43.
Die 17 Pioniere ohne akademische Ausbildung oder Berufslehre verkörpern den typischen «Selfmademan». So gründet der Obwaldner Bergbauernsohn Franz Josef Bucher (1834–1906)  → Bd. 6 | Bd. 81 eine Sägerei, die sich zu einem bedeutenden Holzhandelsunternehmen entwickelt. Bucher erlangt allerdings in anderen Bereichen Weltruhm: Seit den 1870er Jahren engagiert er sich als Hotelier im Luxussegment. Er eröffnet das Grandhotel Bürgenstock und veranlasst den Bau der 944 Meter langen ersten elektrischen Standseilbahn der Schweiz, die das Hotel ab 1888 erschliesst. Das Palace-Hotel in Mailand und das Semiramis in Kairo gehen ebenfalls auf Buchers Initiative zurück.
Die handwerklichen Berufslehren werden überwiegend in metallverarbeitenden Branchen absolviert; so zum Beispiel in Maschinenfabriken (Escher Wyss, Maschinenfabrik Oerlikon), Giessereien (Sulzer, Von Roll), mechanischen Werkstätten oder Schlossereien. Abraham Ganz (1814–1867)  → Bd. 25 etwa absolviert eine Lehre als Eisengiesser bei Escher Wyss & Cie. in Zürich. Seine dabei erlangten Fertigkeiten ermöglichen es ihm, ein besonders robustes Schalengussrad für Eisenbahnen zu kreieren – eine Erfindung, die Ganz zu einem angesehenen und reichen Mann macht. Auch Louis Favre (1826–1879)  → Bd. 86, der durch den Bau des Gotthardtunnels Berühmtheit erlangt, verfügt über eine handwerkliche Lehre.
Seine Kenntnisse im Ingenieurwesen eignet er sich autodidaktisch an.
Bei der kaufmännischen Ausbildung stehen Kolonialwarenhäuser und Grosshandelsunternehmen als Lehrbetriebe im Vordergrund. Edouard Sandoz (1853–1928)  → Bd. 7 | Bd. 44 wird in einer Basler Rohseidenhandlung zum Kaufmann ausgebildet. 1886 gründet er zusammen mit dem Chemiker Alfred Kern (1850–1893)  → Bd. 23 | Bd. 44 die Chem. Fabrik Kern & Sandoz (heute Novartis). Die Entwicklung des Unternehmens wird dank Sandoz’ kaufmännischem Geschick zur Erfolgsgeschichte.
Eine Ausbildung in der Hotellerie geniessen die Pioniere aus der Familie Badrutt. Während sich die Urväter der Hoteldynastie, Johannes Badrutt sen. (1791–1855)  → Bd. 91 und Johannes Badrutt jun. (1819–1889)  → Bd. 91, noch handwerklich ausbilden lassen und erst später ins Gastgewerbe finden, lernen die folgenden Generationen ihr Metier dann aber in den grossen Londoner und Pariser Hotels.

Pionierunternehmen werden im jungen Bundesstaat gegründet

Auffallend viele Pioniere rufen im jungen Bundesstaat ihre Unternehmen ins Leben. Von 1848 bis 1870 entstehen 51 Pionierunternehmen, was einem Anteil von rund einem Drittel der insgesamt 163 Gründungen entspricht. Die Bundesverfassung von 1848 und die auf ihr basierenden neuen staats- und wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen bieten demnach besonders günstige Voraussetzungen für Unternehmensgründungen. Die Zahlen widerspiegeln, dass die Erfolgsgeschichte der Schweiz in der Bundesstaatsgründung von 1848 wurzelt. Der moderne Bundesstaat schafft eine zukunftsgerichtete Schweiz mit einem einheitlichen Wirtschaftsraum. Der wirtschaftliche Aufschwung wird massgeblich vom Eisenbahnbau angetrieben: 1852 bestimmt die Bundesversammlung, dass Bau und Betrieb des schweizerischen Eisenbahnnetzes durch private Unternehmen bewerkstelligt werden soll. Diese sind auf technisches Fachwissen und Kapital angewiesen. Als Reaktion auf diese Entwicklung entstehen auch die ersten Grossbanken, neue Versicherungsgesellschaften und das Eidgenössische Polytechnikum (ETH).
Der junge Bundesstaat ist eng mit dem Namen Alfred Escher (1819–1882)   → Bd. 4 verknüpft. Mit der Gründung der Schweizerischen Nordostbahn (1852/53), dem Eidgenössischen Polytechnikum (1854/55), der Schweizerischen Kreditanstalt (1856), der Schweizerischen Lebensversicherungs- und Rentenanstalt (1857) sowie der Gotthardbahn (1871) hat Escher massgeblichen Anteil an der wirtschaftlichen Entwicklung der Eidgenossenschaft.
Diese neuen Rahmenbedingungen des jungen Bundesstaates nutzt auch der Appenzeller Salomon Zellweger-Walser (1807–1887)  → Bd. 87, der geistige Vater der Helvetia, des ersten Transportversicherers der Schweiz (gegründet 1858 in St. Gallen). Eine weitere Erfolgsgeschichte schreiben Salomon (1816–1893)  → Bd. 6 und Johann Georg Volkart (1825–1862)  → Bd. 6. Sie rufen ihr Handelsunternehmen 1851 ins Leben. Mit grossem Erfolg importieren die Gebrüder Volkart Waren aus Indien und legen damit den Grundstein für den Winterthurer Familienbetrieb, der über fünf Generationen erhalten bleibt. Die Geschäftstätigkeit geht schliesslich in gemeinnützigen Stiftungen auf, die noch heute aktiv sind.
Das früheste Unternehmen, das von einem Pionier gegründet wird, datiert in das 16. Jahrhundert. Zusammen mit seinem Bruder Heinrich (1554–1627)  → Bd. 73 errichtet David Werdmüller (1548–1612)  → Bd. 73 im Jahre 1575 ein Textilunternehmen. Die prächtigen Seidenstoffe, die sie herstellen, machen die Stadt Zürich zu einer Seidenmetropole mit internationaler Ausstrahlung. Das jüngste Pionierunternehmen wird 1951 von Maurice Troillet (1880–1961)  → Bd. 31 ins Leben gerufen, mit dem Zweck, den Bau eines Tunnels durch den Grossen Sankt Bernhard zu realisieren.

Pionierunternehmen existieren über Generationen

Mehr als ein Drittel der 163 Pionierunternehmen existiert noch heute. Bei ihnen lässt sich eine Kontinuität bis zu den Gründerfirmen nachzeichnen. Ebenfalls ein gutes Drittel wird von Firmen übernommen oder schliesst sich mit anderen Unternehmen zusammen. Somit lassen sich in der heutigen Wirtschaft Linien zu 116 Pionierfirmen zurückverfolgen. Von diesen haben über drei Viertel ihren Sitz in der Schweiz. Das übrige Viertel verteilt sich hauptsächlich auf die EU und auf die USA.
Das älteste noch existierende Pionierunternehmen ist die Firma Rieter in Winterthur. Aus dem 1795 durch Johann Jacob Rieter (1762–1826)   → Bd. 62 gegründeten Handelshaus für Baumwolle und Gewürze entwickelt sich über die Jahre ein Spinnereiunternehmen mit eigener Maschinenwerkstätte. Noch heute ist die Herstellung von Textilmaschinen ein wichtiges Standbein des multinationalen Konzerns. Ebenfalls eine lange Tradition hat die 1802 von Johann Conrad Fischer (1773–1854)→ Bd. 74 gegründete Giesserei in Schaffhausen. Über Generationen hinweg entwickelt sich daraus ein Grossunternehmen, das noch heute als Georg Fischer AG Gussteile für Automobile und Präzisionsmaschinen herstellt.
Andere Pionierunternehmen existieren zwar heute noch, sind aber durch Übernahmen und Fusionen in einen grösseren Komplex integriert worden und nicht mehr als solche zu erkennen. So etwa das 1836 von Hans Heinrich Hürlimann (1803–1872)  → Bd. 68 ins Leben gerufene Brauereiunternehmen. Bis 1989 wird die Firma Hürlimann als Familienunternehmen geführt, dann aber in eine Holdinggesellschaft umgewandelt. 1996 fusioniert Hürlimann mit der Feldschlösschen-Holding, und 2000 übernimmt die dänische Brauerei Carlsberg das Getränkegeschäft des Unternehmens. Nicht alle Pionierunternehmen können ihre wirtschaftliche Attraktivität aufrechterhalten. Die schweizerische Textilbranche hatte besondere Schwierigkeiten, sich gegenüber der ausländischen Konkurrenz zu behaupten. So existieren etwa für die damalige Zeit fortschrittliche Textilunternehmen wie die von August Weidmann (1842–1928)  → Bd. 10 gegründete Seidenfärberei oder Johann Jakob Kellers (1823–1903)  → Bd. 25 Spinnerei heute nicht mehr.
Die Beständigkeit und Stabilität vieler Pionierfirmen ist umso eindrücklicher, wenn man diese mit aktuellen Zahlen vergleicht: Von den im Jahr 2003 in der Schweiz gegründeten Firmen besteht fünf Jahre später nur noch knapp die Hälfte. Dass viele Pionierfirmen noch heute existieren und zu einem Grossteil nach wie vor in der Schweiz domiziliert sind, kann auch auf die hiesige Standortattraktivität zurückgeführt werden. Hierzu tragen ausgezeichnete Rahmenbedingungen für Unternehmen bei, etwa die politische und wirtschaft­liche Stabilität, die Rechtssicherheit, die soliden Institutionen und die funktionstüchtigen Infrastrukturen sowie die hohe Effizienz der Behördenstellen.

Pionierunternehmen sind in den Händen von Patrons

Eine deutliche Mehrheit der Pionierfirmen wird als Einzelunternehmen oder Personengesellschaft gegründet. Bei diesen Unternehmensformen haften die Pioniere mit ihrem Privatvermögen. Die Firmeninhaber sind daher gezwungen, ihr finanzielles Risiko durch vorausschauendes und umsichtiges Handeln zu steuern. Sowohl Fehler in der Führung des Geschäftes als auch wirtschaftlich bedingte Schwierigkeiten schlagen sich unmittelbar in der Einkommens- und Vermögens-
situation der Unternehmer nieder.
Ein grosses Risiko geht Henri Nestlé (1814–1890)→ Bd. 2 ein, als er sein gesamtes Vermögen in die Entwicklung von Kindernahrung investiert. Doch das Vorhaben lohnt sich: Aus seinem Einmannbetrieb geht der weltweit grösste Nahrungsmittelkonzern hervor. Auch die Winterthurer Brüder Johann Jakob (1806–1883)→ Bd. 40 und Salomon Sulzer (1809–1869)→ Bd. 40 haften mit ihrem Privatvermögen, als sie 1834 ihre Eisengiesserei als Personengesellschaft gründen. Erst 1914 wird das ursprüngliche Unternehmen in drei Aktiengesellschaften aufgeteilt. Zu den Einzelunternehmen oder Personengesellschaften zählen insbesondere auch Handwerksbetriebe, die nicht von Beginn an grosse Kapitalbedürfnisse zu befriedigen haben. So gründet beispielsweise Franz Burckhardt (1809–1882)→ Bd. 59 seine mechanische Werkstätte 1844 in Basel als Einzelunternehmen. Rund 170 Jahre später existiert das Unternehmen immer noch als Burckhardt Compression AG.
Bei kapitalintensiven Unternehmen wie Banken, Versicherungen, Eisenbahngesellschaften oder Kraftwerken ist der Kapitalbedarf bereits in der Gründungsphase hoch. In dieser Situation sind Pioniere gezwungen, die Form einer Kapitalgesellschaft mit breiter finanzieller Abstützung zu wählen. Hier spielen die
Industrie- und Geschäftsbanken, die ab den 1850er Jahren gegründet werden, eine tragende Rolle.
Kapitalgesellschaften tauchen in der Schweiz erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf. Die erste Schweizer Aktiengesellschaft ist die 1801 in St. Gallen gegründete Baumwollen-Spinnerey-Gesellschaft. In der Boomphase der Schweizer Wirtschaft, während des liberalen Zeitfensters des jungen Bundesstaates, werden vermehrt kapitalintensive Projekte in Angriff genommen, so etwa der Privatbau der Eisenbahnen. Für diese bietet sich naturgemäss eine Rechtsform an, die sowohl das Risiko der Unternehmer einschränkt als auch auf schnellem Weg Kapital mobilisieren kann. So werden etwa Alfred Eschers (1819–1882)→ Bd. 4 Nordostbahn-Gesellschaft und die Schweizerische Kreditanstalt in den 1850er Jahren als Aktiengesellschaften gegründet.