Publizist Karl Lüönd legt mit «Der Energiepapst» eine übersichtliche Biografie über Wirken, Werk, Werte eines charismatischen Managers und Politikers vor.
tachles: Michael Kohn war drei Jahrzehnte lang Topmanager und erfolgreicher Lobbyist in Bern. Dann 1988 stellte er sich als Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds. Weshalb?
Karl Lüönd: Er wollte modernes Management in den SIG bringen, der damals zwar als respektable Institution für Religion und Innenpolitik galt, aber nicht wirklich wahrgenommen wurde. Aus den Kontakten mit Michael Kohn habe ich gemerkt, dass damals zwei Welten aufeinander stiessen. Die grosse Diskussion war: Sollte der Verband einfach der kleinste gemeinsame Nenner und die Lobby des sehr fragmentierten Schweizer Judentums sein, oder sollte er inhaltlich eine Mission haben?
Kohn war Pragmatiker und Analyst. Was tat er schliesslich?
Er tat, was er tun konnte: schuf Ressorts, sorgte für Sitzungen von zeitlich vernünftiger Länge, beschleunigte den Ablauf der Geschäfte, bildete Ausschüsse. Er machte Druck, setzte Termine und konnte unangenehm werden, wenn diese nicht eingehalten wurden.
Kohns Zeit im SIG endete abrupt. Im Buch steht wenig darüber. Wie beurteilte er im Gespräch mit Ihnen seine Zeit?
Er sagte offen: Ich bin gescheitert. Er bezeichnete sich selbst als zu fordernd – was mich überraschte, weil Selbstkritik sonst nicht eben seine Stärke war.
Ein Skandal sorgte letztlich für den Rücktritt Kohns aus dem SIG und Sie selbst waren als Chefredaktor des «Züri Leu» involviert. Kohn war während Jom Kippur Gast bei einem innenpolitisch wichtigen Empfang. Sie berichteten darüber.
Ja, und zwar in der Klatschkolumne von Suzanne Speich, die in meiner Zeitung eine grosse Rolle spielte. Die Rede war von einer Party am Vorabend von Jom Kippur, an der Michael Kohn teilgenommen hatte. Er versuchte damals, die Publikation zu verhindern, aber ich wies ihn ab. Bei unseren Gesprächen für das Buch war dieses Thema Michael Kohn gar nicht mehr so wichtig. Er betrachtete die Sache als Symptom der tiefer liegenden Differenzen.
Die Probleme lösen konnte er während seiner kurzen Präsidentschaft ja nicht – die sind noch immer die gleichen. Die Liberalen jüdischen Gemeinden wurden nicht aufgenommen, auch 2004. Der Modus vivendi basiert auf dem Kooperationsgedanken, den Kohn damals konzipierte.
Aber er machte sie bewusst und sichtbar, und einige Knöpfe löste er wohl auch, so etwa die Sache mit der Liegenschaft Berges du Léman, deren Verkauf er aufgleiste. Die Gemeinden arbeiten seither auch in Sachen Sicherheit und Antisemitismusbekämpfung zusammen.
Kohn war dann einige Jahre spätere Akteur in der Holocaust-Debatte um die sogenannten nachrichtenlosen Vermögen. Wie kam das?
Ja, zusammen mit Hans Bär, Rolf Bloch und zeitweise Sigi Feigel. Die vier hatten zwar kein offizielles Mandat dafür, fanden aber kraft ihrer Autorität und Persönlichkeit Gehör gerade bei den Amerikanern.
Vier starke Persönlichkeiten, nicht alle mit der gleichen Agenda. Wie war das ?
Michael Kohn war sicher derjenige, der politisch am besten vernetzt war und sich durch seine hervorragende Arbeit für die Gesamtenergiekonzeption in Bern Respekt verschafft hatte. Er fand bei den wesentlichen Bundes-räten stets offene Türen.
Was war Kohns Ziel dabei?
Verständigung zu schaffen und Brücken zu bauen. Das war immer sein Ansatz, auch zuvor in der Energiediskussion. Er ging stets auf die Leute zu und redete mit ihnen, auch mit erbitterten Gegnern wie der späteren Zürcher SP-Stadträtin Ursula Koch, die ab 1979 Geschäftsführerin der atomkritischen Schweizerischen Energiestiftung war.
Wollte er sich jeweils durchsetzen oder war er letztlich bereit, Kompromisse zu machen?
Letzteres. Er war derjenige, der versuchte, Gespräche in Gang zu bringen und die Gegenposition respektierte, wobei er aber unweigerlich in die Diskussion einbrachte, was die anderen ausgeblendet hatten.
Kohn war ein strategischer Denker. Das ist in Ihrem Buch etwa in dem Kapitel feststellbar, in dem er die Vorschläge zum Energiepapier an den Bundesrat machen musste.
Die 1970er- und 1980er-Jahre waren eine Zeit der Gesamtkonzeptionen (Verkehr, Medien, Energie). Im Gegensatz zu anderen solchen Kommissionen stattete Michael Kohn seine mit lediglich elf Leuten aus – sehr ungewöhnlich. Und er verlangte von den Mitgliedern, dass sie Arbeit leisteten, was sie alle auch taten, vor allem er, der während dieser Zeit Sieben-Tage-Wochen hatte. Und dann präsentierte er nicht eine Lösung, sondern eine Auswahl von 13 Szenarien, jedes genau beschrieben und analysiert, von völliger Liberalisierung bis zu völliger Regulierung des Energiemarktes.
Sprach er sich für eine Lösung aus?
Nein, er sagte einfach: Das sind unsere Optionen, und nun, liebe Politik, wähle bitte aus.
Michael Kohn hielt jedoch bis zu seinem Lebensende daran fest, dass Atomenergie eigentlich die Grundlage der Energiepolitik der Schweiz sein müsse. Lag er da falsch?
Ja, dies ist die wesentliche Frage, und sie wurde nun einfach – meiner Meinung nach überstürzt – unter dem Eindruck von Fukushima nicht in seinem Sinne entschieden. Michael Kohn hat sich dagegen immer gewehrt, schmuggelte sich quasi in die Rio-Delegation ein, sprach mit Bundesrätin Leuthard. Er versuchte, die Umweltforderungen und die wirtschaftlichen Aspekte irgendwie in Übereinstimmung zu bringen und den Ausstieg so zu gestalten, dass er auch zahlbar wäre.
Wollte er sich damit nochmals selbst beweisen und Recht bekommen?
In erster Linie ging es ihm sicher um die Sache. Aber wer ihn kannte, wusste, dass er sehr selbstbewusst war und die Aufmerksamkeit genoss.
In seiner Biografie lässt sich dieses selbstbewusste und bisweilen brillante Auftreten mit Öffentlichkeitskompetenz nicht verorten.
Doch. Der kleine Jude aus nicht allzu reichem, sozialdemokratisch-zionistisch orientiertem Haus und Einzelkind musste sich schon früh durchzusetzen lernen. Es gab zwei geografische Orte, die für ihn lebensentscheidend waren: die Langstrasse und Israel. Dort baute sich die Einzigartigkeit der Persönlichkeit Michael Kohns auf. Er war nicht nur Ingenieur und Technokrat, sondern legte sich darüber Rechenschaft ab, was er mit seiner Arbeit als Ingenieur und Manager gesellschaftlich und politisch anrichtete und wie er dazu kommunizieren müsse. Aber er sagte immer, er habe an der Langstrasse gelernt, mit den Leuten zu reden, als er im Geschäft seines Vaters den Limmattaler Bauern die Hosen abstecken musste.
Er machte in Israel an sich gute Geschäfte, ging aber nach drei Jahren wieder. War er dort doch ein wenig gescheitert?
Nein, sein Aufenthalt war von Anfang an befristet gewesen. Im Gegenteil, er wurde sogar um ein Jahr verlängert. Motor Columbus liess ihn ja gehen in der Hoffnung, dass er Aufträge nach Hause bringe. Als einer der wenigen Ingenieure der damaligen Generation hatte er auch wirtschaftlichen Sachverstand. Da sah er wohl die Karrieremöglichkeiten bei einer Rückkehr in die Schweiz. Wobei er auch Glück hatte. Bei Motor Columbus fielen damals gerade zwei der drei führenden Persönlichkeiten aus gesundheitlichen Gründen aus. In Israel realisierte Michael Kohn, dass die von ihm als Ingenieur gebauten Anlagen auch eine gesellschaftliche, politische und gesamtwirtschaftliche Auswirkung haben.
Wie würden Sie das letzte Drittel seines Lebens, nach Berufskarriere und SIG, einordnen?
Er zehrte von seiner Bekanntheit und versuchte, diese in die öffentliche Diskussion um die Energiepolitik einzubringen. Es schmerzte ihn, dass er dabei am Schluss, beim Entscheid zum Atomausstieg, auf der Verliererseite stand.
Wobei er ja als «Energiepapst» und nicht als «Atompapst» in die Geschichte einging.
Ja, aber «Papst» bedeutet ja auch Unfehlbarkeit, was gewisse Züge seiner Selbsteinschätzung durchaus traf …
… an der Ihr Buch ab und zu rüttelt. Wie hat sich für Sie die Zusammenarbeit in dieser Hinsicht gestaltet?
Natürlich gab es Diskussionen, er war mit dieser oder jener Einschätzung von mir nicht einverstanden. Seine nachlassende Gesundheit ab 2012 machte es zusätzlich schwierig, weil er für Rückmeldungen oft sehr lange brauchte. Letztlich ist das Buch in der vorliegenden Version aber einvernehmlich erschienen – in der Schweiz können solche Biografien ja nur mit dem Einverständnis des Betroffenen veröffentlicht werden.
Konnte Michael Kohn noch alles gegenlesen?
Nein, leider nicht, aber bis zum Kapitel über das Gesamtenergiekonzept kam er noch.
Michael Kohn hatte eine für die damalige Zeit ausserordentliche Medienpräsenz. Wie wurde er in den 1970er- und 1980er-Jahren öffentlich wahrgenommen?
Als kompetent in Energiefragen und als einer, der immer ansprechbar war. Dies im Gegensatz zur übrigen Energiebranche, die immer ein verschwiegener Haufen von Technokraten war. Kohns Kollegen wussten nicht viel über das Funktionieren des Marktes und waren durch und durch kartellisiert.
Wie würden Sie ihn als Topmanager im Vergleich zu anderen sehen?
Vor allem als sichtbare Persönlichkeit, als einen, der sich stellte und auch ohne Furcht exponierte. Von einigen anderen aus dieser Riege gab es damals noch nicht mal ein brauchbares Foto im Ringier-Archiv.
Während dieser Zeit kam sein Judentum nicht zum Vorschein. Aber ab Ende der 1980er-Jahre äusserte er sich auch öffentlich sehr stark als jüdische Figur.
Ja, da setzte er einen anderen Hut auf. Er erklärte das damit, dass seine Mutter ihm immer zugeredet habe, auch einmal etwas für die Juden zu tun. Vermutlich waren zuvor seine zeitlichen Kapazitäten einfach begrenzt. Darüber hinaus schien er jemand zu sein, der sein Leben gut geplant hatte. Als er die Verantwortung bei Motor Columbus abgeben konnte, hatte er Zeit.
Wenn Sie über die Topmanager im 20. Jahrhundert der Schweiz ein Buch schreiben würden, wäre Michael Kohn einer der vorkommenden Namen?
Ganz bestimmt, er wäre einer der ganz wichtigen Namen in Bezug auf die Schnittstelle zwischen Technik, Wirtschaft und Politik und würde für eine ganzheitliche, geerdete Sichtweise stehen.
Und wie würden Sie als Aussenstehender ihn als Persönlichkeit im Schweizer Judentum einordnen?
Soweit mir als Aussenstehendem dazu ein Urteil zusteht: ebenfalls als sichtbar und behaftbar. Und auch zu sprechen, wenn es für ihn unangenehm war. Ganz allgemein gesprochen und nicht speziell auf die jüdische Szene bezogen: Er unterschied sich stark von heutigen, von PR-Leuten gesteuerten Führungskräften, die den Kopf einziehen, wenn es zu stürmen anfängt. Ihm hat es sogar Spass gemacht, sich in den Gegenwind zu stellen.
Wie würde Kohn reagieren, wenn er das Buch lesen würde?
Er hat das bekommen, was er verdient und auch gewollt hat. Er wollte Spuren hinterlassen. Die Reihe, in der es erschienen ist – beim Verein für wirtschaftshistorische Studien –, ist eine gute Adresse. Auch wenn er sicherlich, seiner Art entsprechend, mit dem Rotstift darüber gehen und vieles anstreichen würde: Ich glaube, dass er Freude daran hätte.
Was denken Sie, hätte er gerne auf seinem Grabstein geschrieben gesehen?
«Er war ein Brückenbauer.»