Kilian Oberholzer in «Linth Zeitung», 4. März 2023, S. 9
Warum Gotthard und nicht Ostalpenbahn?
Mit der Schaffung des Bundesstaates von 1848 waren die Möglichkeiten zum Eisenbahnbau gegeben. Ein neues Buch widmet sich vier St. Galler Politikern, die sich für die Eisenbahn als Grundlage eines wirtschaftlich starken Kantons einsetzten.
Heute ist klar: Mit der Verwirklichung der Neuen Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT) mit Gotthard als Haupt und Lötschberg-Simplon als Nebenachse ist die Schweizer Alpenbahnfrage gelöst. Die NEAT fügt sich in die schweizerischen und europäischen Verkehrsströme ein und schafft auch für die Ostschweiz gute Verbindungen in den Süden. Zu Beginn des Eisenbahnzeitalters war lange darüber gestritten worden, ob eine Verbindung in den Süden durch die Ostalpen (Graubünden) oder den Gotthard führen soll. Der Kampf brach im Vorfeld der NEAT-Entscheidung in den 1960er-Jahren nochmals auf, als sich die Ostschweiz erneut für eine Ostalpenbahn starkmachte und dabei unterlag.
Ausführliche Biografien in einem Gemeinschaftswerk
In einer Schrift mit dem Titel «Aufbruch zum modernen St. Gallen – Vier Wegbereiter» stellen die Autoren Stefan Gemperli, Wolfgang Göldi, Fabian Henggeler, Alfonso C. Hophan, Joseph Jung und Patric Schnitzer in ausführlichen Biografien vier St. Galler Politiker vor, die sich für die Eisenbahn als Grundlage für ein wirtschaftlich starkes St. Gallen einsetzten. Es sind dies: Gallus Jakob Baumgartner (1797-1869), Johann Matthias Hungerbühler (1805-1884), Daniel Wirth-Sand (1815-1901) und Arnold Otto Aepli (1816-1897).
Jung legt in seinem einleitenden Beitrag die Grundlagen: Unter dem Regime der Tagsatzung war eine schweizerische Eisenbahnpolitik schlechthin unmöglich. Es gab unter den Kantonen keine weitsichtige Zusammenarbeit, dafür lästige Zollgrenzen. Die konfessionellen Gegensätze und weltanschauliche Differenzen standen einem gesamtschweizerischen Denken entgegen. Eine Wende brachte der Sonderbundskrieg, der zum Bundesstaat von 1848 führte. Jung zeigt auf, dass der vom Zürcher Alfred Escher verkörperte Wirtschaftsliberalismus eine gewaltige Dynamik entwickelte, die allerdings bald gebrochen wurde, als mit der Stärkung der demokratischen Volksrechte – Referendum und Initiative, schliesslich Nationalratsproporz – die Vormacht dieses Wirtschaftsdenkens gebrochen wurde.
Die Frage, ob der Eisenbahnbau durch den Staat oder durch Private erfolgen sollte, spaltete auch den damals allein bestimmenden Freisinn. Der Entscheid für die private Initiative im Jahr 1852 liess innert kürzester Zeit ein dichtes Eisenbahnnetz entstehen. Die Folge war ein ruinöser Konkurrenzkampf. Die von Escher dominierte Nordostbahn (NOB) realisierte eine Verbindung Zürich-Romanshorn, dem Ausgangshafen für den Transport über den Bodensee. Die Vereinigten Schweizer Bahnen (VSB) kamen mit ihrer Linie Winterthur-St. Gallen Rorschach zu spät.
Berlin und Savoyen-Piemont geben Entscheid für Gotthard
Romanshorn, bis dahin ein unbedeutendes Dorf, wurde zu einem wichtigen Eisenbahnknotenpunkt. Von hier aus wurden bis in die 1970er-Jahre Güterwagen mit Fährschiffen nach Friedrichshafen in Deutschland übergesetzt. Die vier im Buch vorgestellten St. Galler Politiker setzten sich für die St. Galler Interessen ein, sie waren aber keine «Eisenbahnbarone» wie Alfred Escher, sondern überzeugte freisinnige Staatsdiener. Früh zielte die Ostschweiz auf eine Ostalpenbahn über Splügen oder Lukmanier. Als Erster plante Gallus Jakob Baumgartner in den 30er-Jahren des 19. Jahrhunderts Zufahrten für einen Ostalpen-Übergang. Doch entscheidend war letztlich, dass sich Deutschland und Savoyen-Piemont eindeutig für den zentral liegenden Gotthard aussprachen. Dieser war von Deutschland aus über Basel und Schaffhausen gut erreichbar. Auch aus gesamtschweizerischer Sicht lag der Gotthard zentral.
Die Ostalpenbahn wird nochmals zum Thema
Als in den 1960er-Jahren die Alpenbahnfrage erneut aufgerollt wurde, sprachen sich die Kantonsregierungen von St. Gallen und Graubünden für einen Tunnel durch den Splügen in Graubünden aus und setzten damit auf das falsche Pferd. Sie liessen sich durch die Lastwagenlawine aus Süddeutschland Richtung Italien über die damals noch einspurige Rheintalautobahn beeindrucken. Die treibende Idee war, die Lastwagen ab St. Margrethen auf der Bahn zu transportieren. Einen Splügentunnel hätte Italien zur Hälfte finanzieren und die Strecke Chiavenna-Mailand über rund 130 Kilometer ausbauen müssen – eine höchst unsichere Sache. Wenn sich St. Gallen und Graubünden damals auf die vom Weesner Ingenieur Manfred Rauscher propagierte Tödi-Greina-Bahn geeinigt hätten, hätte eine Ostalpenbahn so vielleicht doch eine Chance gehabt.
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