Marcel Elsener im «St. Galler Tagblatt», 27. Juli 2021, S. 15
Heerbrugg als Hightech-Epizentrum
«Brennpunkt Heerbrugg»: Ein Buch untersucht die Geschichte des Rheintaler Unternehmensclusters in der Präzisionstechnik.
Heerbrugg ist ein Kuriosum: Der Ort ist einer der wichtigsten Schweizer Industriestandorte, ohne ihn wäre der Kanton St. Gallen nicht viel und hätte die Schweiz nicht so früh in die Welt hinaus-gestrahlt. Dabei hat Heerbrugg, anders als vergleichbare englische oder deutsche Industrieorte, noch nicht mal einen Fussballclub und gibt es den Ort politgeographisch nicht: Er gehört zer-stückelt den Gemeinden Au, Balgach, Berneck und Widnau.
Keine Gemeinde, obwohl Heerbrugg als Industrie-, Verkehrs- und Dienstleistungszentrum des Mittelrheintals gilt und der Ort auf jeder Karte eingezeichnet ist und freilich Ortsschilder, eine Postleitzahl, einen Bahnhof, Schul- und Kirchgemeinden und eigene Vereine hat. Und eine Kantonsschule, das einzige Kino in der Region (Madlen) und einen Kulturort (Stellwerk), um den ihn grössere Städte beneiden könnten. Nicht umsonst hätte die Stadt, zu der die genannten Gemeinden verschmelzen wollten, Heerbrugg heissen sollen; die Fusion scheiterte 2007 am Volksnein, die Rheintaler tun sich schwer mit Urbanität.
Die Ziegelei des Drainagepioniers war die Keimzelle
Nun schreibt das Buch «Brennpunkt Heerbrugg», verfasst vom St.Galler Historiker Dieter Holenstein und erschienen in der Reihe «Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik», dem Dorf die industriegeschichtliche Bedeutung für die Schweiz erstmals umfassend zu. Anlass ist das hundertjährige Bestehen jener Firma, die die Region zu einem der wichtigsten Industrie- Ballungszentren der Ostschweiz, ja zu einem weltbedeutenden Cluster von Präzisionstechnik-unternehmen machte: Wild Heerbrugg oder Leica Geosystems AG, wie ihre Nachfolgefirma unter dem Mantel des schwedischen Hexagonkonzerns heute heisst.
Warum ausgerechnet Heerbrugg dem Rheintal den Weg «vom Überschwemmungstal zum Hightech-Valley» ebnete, verdankt sich dem deutschen Flüchtling Karl Völker, der nach mehreren Umzügen und einem Aufenthalt in England 1830 das Schloss Heerbrugg erwarb – ein Zufall, weil die Schwester seiner Gattin in Altstätten lebte und das kinderlose Ehepaar statt von Liverpool nach Nordamerika auszuwandern im letzten Moment in die Schweiz zurückkehrte. Im Schloss unterhielt Völker eine Privatschule, auf seinen Grundstücken experimentierte er mit exotischen Produkten: Er züchtete Merinoschafe (Wolle), pflanzte Maulbeerbäume (Seide) und stellte Tonröhren her. Letztere benötigte er für die Entwässerung des oft überschwemmten Wieslands.
Die Ziegelei des Drainagepioniers Völker ist die Keimzelle des Mittelrheintaler Industrieclusters sowie eines Familienimperiums: 1867 erwarb sie der Weber Jacob Schmidheiny und lancierte damit seinen Aufstieg zum ersten Industriellen der Familie. 1921 beteiligt sich Schmidheiny zusammen mit dem Extrembergsteiger und Photogrammetrie-Pionier Robert Helbling an der
Gründung jener Firma, mit der alles beginnen sollte: der Werkstätte für Feinmechanik und Optik von Heinrich Wild, einem Erfinder und Entwickler vermessungstechnischer Instrumente. Noch im selben Jahr bezieht sie das vom Rheintaler Architekten Johann Labonté geplante Fabrik-gebäude – der Grundstein des Unternehmens, das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit über 4000 Beschäftigten zum weltweiten Marktführer in Photogrammetrie und Vermessung aufsteigt. Wild-Instrumente sollten für Gipfel- und Bergbauvermessungen, Polarexpeditionen oder Weltraumflüge und freilich auch für viele militärische Zwecke eingesetzt werden.
Rheinkorrektion machte Sümpfe zu Bau- und Kulturland
Warum Heerbrugg zum Motor der Entwicklung wurde, lag aber auch an seiner guten Erschliessung: Als Kantonsrat hatte Völker für die Eisenbahn im Rheintal und einen eigenen Bahnhof gekämpft, dazu kam ein Tram in die umliegenden Gemeinden. Und der früher abwertend als Schollen- oder Wasserloch bezeichnete Ort hatte grosse Baulandreserven im durch Rhein-korrektion und Melioration nutzbar gemachten Gelände: Die in Etappen realisierte Kanalisierung des Rheins und der 1906 fertiggestellte Rheintaler Binnenkanal sei die «wichtigste Basis für die Erfolgsgeschichte», hält Holenstein fest. Weil damit die bis dahin verheerenden Überschwemmungen des Stroms und seiner Zuflüsse eingedämmt wurden und in der Talebene
neues Kultur- und Bauland zur Verfügung stand. Von wegen Überschwemmungstal: Dass man dort heute über das Hochwasserschutzprojekt Rhesi mit Flussaufweitungen nur mässig begeistert ist, liegt auch im Konflikt zwischen Natur und Wirtschaft begründet. Im Mittelrheintal habe jede Familie eine Verbindung zu «Wild Heerbrugg», heisst es. Neben Wild entstand in Heerbrugg die mit weltweit über 10 000 Beschäftigten grösste Rheintaler Firma: die SFS-Gruppe, 1960 als Presswerk Heerbrugg AG gegründet. Zum Cluster der Präzisionsindustrie tragen zudem die Leica-Spin-offs sowie eine Reihe von Firmen bei, die oft von früheren Wild-Fachleuten aufgebaut wurden, wie Berhalter, WZW Optic, Zünd Precision Optics, Heule Werkzeug.
Das Rheintal gehört zu den exportstärksten Regionen der Schweiz, in der Hochtechnologie belegt es einen europäischen Spitzenplatz. Heerbrugg stehe für ein lehrreiches Kapitel Schweizer Industriegeschichte mit zukunftsweisender Bedeutung, schreibt Bundesrätin Keller-Sutter im Geleitwort. Dabei kam das Wirtschaftswunder zunächst nur dank Fachkräften aus dem kriegs-versehrten Deutschland in Gang und ist bis heute auf Tausende Grenzgänger angewiesen. Grund genug für Keller-Sutter, den freien Personenverkehr als eines der Rezepte für den hiesigen Wohl-stand hervorzustreichen. Ein anderes ist das durchlässige Bildungssystem: Die meisten Heer-brugger Pioniere kamen aus bescheidenen Verhältnissen. Heinrich Wild bildete schon früh eigene Lehrlinge aus und ebnete der dualen Berufsbildung den Weg. Die lehrreiche Lektüre sei einem Publikum weit über das Rheintal hinaus empfohlen – und erst recht als fachübergreifender Stoff an der 1975 eröffneten Kanti Heerbrugg. Schliesslich sollten die Gymnasiastinnen und Gymnasiasten wissen, warum die Strasse, an der die Kanti (wie auch die Rheintaler Oberstufen-schule) liegt, Karl-Völker-Strasse heisst.
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