Colin Bätschmann in «Zürichsee-Zeitung», 6. November 2021, S. 3
Aus Oetwil in die Welt: Der grösste Spinner Europas
Neues Buch über Industriepionier Heinrich Kunz (1793–1859) war vieles: Spinnerkönig, inhaftierter Straftäter, Feindbild. Die erste Biografie über den Mann schafft Klarheit.
Ob das gigantische gläserne Gewölbe des Kristallpalasts im Hyde Park den reichsten Zürcher seiner Zeit zu beeindrucken vermag, ist ungewiss. Sechs Millionen Menschen besuchen die «Great Exhibition», die erste Weltausstellung 1851 in London. Der reichste Zürcher ist als Aussteller vor Ort, und das verwundert kaum: Der Oetwiler Heinrich Kunz (1793–1859) gilt damals als grösster Spinnereibesitzer Europas.
Nur ein Jahr zuvor hat Kunz statt mit viktorianischem Prunk noch mit dem «Kerker» von Uster vorliebnehmen müssen. Acht Tage lang war er dort eingesperrt. Bei der amtlichen Gewalt machte sich der «Spinnerkönig» nicht immer beliebt. Ebenso wenig bei seiner Arbeiterschaft, die zu den besten Zeiten aus mehr als 2000 Personen bestand. Die Mischung aus Erfolg und Rücksichtslosigkeit formte aus dem Menschen Kunz den Mythos, von dem man bis heute spricht: den eines kaltherzigen, geizigen, erfolgreichen Unternehmers.
Nie gesehene Quellen
«Heinrich Kunz war im eigenen Haus gefürchtet und bei vielen Zeitgenossen verhasst», schliesst auch Werner Bosshard das Kunz-Kapitel in seinem Buch zur Oetwiler Ortsgeschichte, das bereits 2020 erschienen ist. Doch was hat Kunz eigentlich so falsch gemacht, dass man derart schlecht von ihm denkt?, fragte sich Bosshard später. Der pensionierte Bankfachmann und einstige Oetwiler Gemeinderat ging der Frage nach und legte kürzlich die erste Biografie von Heinrich Kunz vor.
Dabei konnte Bosshard auf bislang unbeachtete Quellen zurückgreifen: Briefe von und an Kunz. Dessen angeheiratete Verwandtschaft, die Meilemer Familie Wunderly, stellte diese erstmals einem Forschenden zur Verfügung. «Das war für mich wie ein Sechser im Lotto», sagt Bosshard. Die Briefe geben nämlich Einblick in Gedanken- und Gefühlswelten des Verfassers, die bislang verborgen waren.
Erfahrung im Elsass
Heinrich Kunz wächst in Oetwil in gehobenen Verhältnissen auf, die ihm im Alter von 16 Jahren eine kaufmännische Ausbildung in einem Textilbetrieb im elsässischen Guebwiller ermöglichen. Er weiss seine Privilegien zu nutzen. Bald ist der junge Mann bestens über Branche und Maschinen orientiert und knüpft fleissig Kontakte. Als sein Vater um 1810 vom Betrieb einer Spinnerei im Dachstock eines Doppelwohnhauses in der Oetwiler Gusch träumt, ist es der Sohn, der ihm in einem Brief detaillierte Kalkulationen und Preisvergleiche vorlegt. Der 17-jährige Heinrich kümmert sich auch um die Anschaffung von Maschinenteilen und spediert diese in die Schweiz, wohin er bald zurückkehrt. Mit der ersten handbetriebenen Spinnerei in der Gusch legen Vater und Sohn Kunz den Grundstein eines Imperiums.
Wochenlange Reisen
Das Kapital des Vaters, der Ehrgeiz und das Fachwissen des Sohnes – eine Erfolg versprechende Kombination. Doch wollen die beiden das Wirkungsfeld handbetriebener Spinnereien verlassen, braucht es noch etwas Viertes: Wasser. Am Standort in Oetwil sind die Bäche zu klein, um genug Wasser für die Energieproduktion zu führen. Vater und Sohn ziehen weiter.
Nach gescheiterten Projekten in Schaffhausen und Wetzikon erfolgt 1817 der Umzug in ein fünfstöckiges Fabrikgebäude am Aabach in Oberuster. 15 mechanische Spinnstühle mit je 104 Spindeln werden im ersten Jahr betrieben, ein paar Jahre später sind es mehr als fünfmal so viele.
Der Erfolgsfaktor der kunzschen Spinnereibetriebe ist die hohe Qualität der Baumwollgarne, die sie produzieren. Mit diesen kann Heinrich Kunz, der das Geschäft 1825 von seinem Vater übernimmt, auch auf dem internationalen Markt höhere Preise erzielen als die Konkurrenz. Diese Qualität sichert der Patron, indem er sich im nahen Ausland über die neusten Technologien informiert und diese in seinen Fabriken anwendet. Kunz ist oft wochenlang mit Kutschen und zu Fuss unterwegs.
Unmenschliche Umstände
Bosshard nennt einen weiteren Erfolgsfaktor: «Kunz gab keinen Rappen mehr aus, als er musste.» Das galt für Steuern, den Einkauf von Baumwollfasern, Abgaben für Wasserrechte, aber auch für die Löhne seiner Arbeiterinnen und Arbeiter. Gegenüber diesen soll er zudem keinerlei Empathie gezeigt haben. Im Buch nennt Bosshard ein Beispiel: Als eine 13-jährige Arbeiterin von einem Wendelbaum an den Kleidern ergriffen und zu Tode gedrückt wird, findet Kunz, jeder Arbeiter sei für sich selbst verantwortlich und bei einem Unfall selber schuld. Schutzvorrichtungen gibt es keine.
Wenn die Arbeitsumstände – düstere, enge Räume, offen stehende Maschinen, Kinderarbeit und 13-Stunden-Schichten – aus heutiger Sicht auch unwürdig erscheinen, sind die kunzschen Betriebe längst nicht die einzigen ihrer Art. Unmenschliche Arbeitszeiten und tiefe Löhne sind laut den Fabrikanten zwingende Faktoren für die internationale Konkurrenzfähigkeit der damaligen Schweiz, des «Armenhauses Europas».
Und doch scheint der Patron Kunz besonders hart gewesen zu sein. «Soziale Kompetenz lässt sich aus den Quellen kaum erkennen, und so hatte er auch kein Verständnis für die Sorgen und Nöte seiner Arbeiterschaft», schreibt Bosshard. Kunz zieht sich derweil mit dem Standpunkt «Lieber Brot statt Not» aus der Verantwortung.
Erfolgreich und einsam
Dass Heinrich Kunz zeit seines Lebens kinderlos bleibt und nur wenige Vertraute hat – etwa zwei Schwestern und eine Nichte –, passt ins Bild des herzlosen Industriekapitalisten, wie es Kunz’ politische Gegner zeichnen. Mit der Bildungselite, vor allem Lehrern und Pfarrern, liefert er sich regelmässig lange Schlagabtausche, die die NZZ abdruckt. Seinem wirtschaftlichen Erfolg kann das aber kaum etwas anhaben. Kunz baut oder übernimmt weitere Fabriken in Niederuster, Windisch, Linthal, Rorbas, Oberkempttal, Adliswil und Unter-Aathal. 1853 betreibt er an acht Standorten zusammen rund 132’000 Spindeln – das sind doppelt so viele wie der nächstgrössere Konkurrent in der Schweiz und 15 Prozent aller Spindeln im Land.
Nicht nur das: Kunz ist wohl auch der grösste Spinnereibesitzer Europas. Der Übername «Spinnerkönig» haftet ihm schon lange an. Der Gang an die Weltausstellung in London 1851 ist keine unternehmerische Pflicht, sondern die Kür.
Aber da ist noch die Geschichte mit dem «Kerker» in Uster, in dem Kunz acht Tage verbringt. Grund für die Gefängnisstrafe ist ein Wasserrechtsstreit in Adliswil, wie sie der Unternehmer ständig auszufechten hat. 1849 lässt er seine Arbeiter ein Wehr zur besseren Nutzung der Sihl errichten. Im Sood betreibt er seit ein paar Jahren eine Fabrik. Dieses Wehr hätte er aber nicht bauen dürfen, befindet der Statthalter des Bezirks Horgen, der Thalwiler Müller Jacob Kölliker. Als Kunz’ Arbeiter den Aushub wieder rückgängig machen sollen, widersetzen sie sich. Statthalter Kölliker sieht dahinter den Patron Kunz als «intellektuellen Urheber» dieses Widerstands. Und das tut auch das Zürcher Obergericht, das Kunz wegen Beihilfe zur Widersetzung gegen amtliche Gewalt zu acht Tagen Gefängnis verurteilt.
«Mir ist nicht mehr zu helfen»
Nach einer Vergnügungsreise nach München im Sommer 1859 erliegt Heinrich Kunz im Alter von 66 Jahren einer Darminfektion. Seine letzten Worte sollen gewesen sein: «Mir ist nicht mehr zu helfen.» Kunz hinterlässt ein Vermögen von 17 Millionen Franken, was heute einem Geldwert von etwa 250 Millionen Franken entspricht.
Anders als in seinem Buch zur Ortsgeschichte zieht Werner Bosshard in seiner Kunz-Biografie eine wohlwollende Bilanz. Industriepioniere wie Kunz hätten enorme Leistungen erbracht, um in der Bevölkerung Hunger und Not durch Arbeit und Brot zu ersetzen. «Mein Bild von Kunz hat sich durch die neu aufgetauchten, persönlichen Dokumente geändert», sagt Bosshard.
Bewunderung hin oder her – Werner Bosshard hat mit der Biografie ein differenziertes, transparentes Standardwerk geschaffen. Die zusätzliche Quellenedition mit den bislang unveröffentlichten Briefen ist besonders wertvoll und ermöglicht Anschlussforschung, die dem Mythos Kunz weiter auf den Grund geht.
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