Vom Kirchenrecht zum internationalen Banking
Schon im frühen 20. Jahrhundert nahmen Schweizer Wissenschafter an internationalen Verhandlungen teil; so auch Rudolf Gottfried Bindschedler, der als promovierter Kirchenrechtler bei verschiedenen internationalen Verhandlungen in Bankangelegenheiten teilnahm.
Am 9. Juli 1883 kam Rudolf Gottfried Bindschedler als ältester Sohn des Mediziners Rudolf Gottfried Bindschedler (1843–1915) in Zürich zur Welt. Er besuchte die obligatorischen Schulen in Zürich und begann nach der Maturität ein Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Zürich. 1906 promovierte er mit summa cum laude in Kirchenrecht. Seine erste Stelle hatte er als Zweiter Sekretär beim Schweizerischen Handels- und Industrieverein («Vorort»), wo er vor allem Fragen des Zolltarifs, des neuen Fabrik- und des neuen Postgesetzes bearbeiten musste.
Im Jahre 1909 erhielt Bindschedler bei der Bank Leu & Co. die Stelle eines Direktionssekretärs, und 1919 berief ihn die Schweizerische Kreditanstalt (SKA) in die Zentraldirektion, wo er bis Ende 1936 bleiben sollte. Bei der SKA leitete er das schweizerische Effektengeschäft sowie das internationale Kommissionsgeschäft.
Bald nahm er an verschiedenen internationalen Verhandlungen teil, wie über die Dawes- und Young-Anleihen oder die ersten französischen Anleihen nach dem Ersten Weltkrieg. Der Kirchenrechtler wurde zu einem der wichtigsten Schweizer Bankiers auf internationalem Parkett in der Zwischenkriegszeit. Denn er reiste auch in die USA, um die durch den Ersten Weltkrieg unterbrochenen alten Verbindungen wiederaufzunehmen, indem er verschiedene Grossbanken besuchte.
Aufgrund seiner jahrelangen Erfahrung und den exzellenten Kontakten zur amerikanischen Finanzwelt, Industrie und Politik waren die Berichte von Rudolf Bindschedler aus den USA bankintern meinungsbildend. Zwar sah auch er den Börsenkrach im Oktober 1929 nicht voraus. Doch umso deutlicher wies er auf die moralischen und psychologischen Folgen des Börsensturzes und damit auf die problematische Kehrseite des aggressiven Marketings von Anlagepapieren hin. So schrieb er 1930: «Der scharfe Börsenkrach von 1929 hat viel gewaltigere Verluste gebracht, als man sich in Europa vergegenwärtigt. Tausende von Leuten haben ihr gesamtes Vermögen verloren. […] Die Folge dieser masslosen Spekulation und der daraus resultierende Verlust haben neben dem materiellen Verluste ein moralisches Debakel ausgelöst.»
In seiner Biographie spiegeln sich wirtschaftlicher Erfolg, akademische Bedeutung und bürgerliches Engagement. So engagierte sich Rudolf Bindschedler zeitlebens für die Universität Zürich, die ihn schliesslich zum ständigen Ehrengast ernannte. Und die von ihm gegründete «Familienstiftung Rudolf G. Bindschedler» bezweckt die Unterstützung an die Nachkommen und spricht Zuwendungen an wohltätige, gemeinnützige, wissenschaftlich tätige oder kulturelle Organisationen.