Die Legende der Wintersaison
(BR) Die viel zitierte Geschichte ist zu schön, um nicht wahr zu sein. Johannes Badrutt wettet im Herbst 1864 mit seinen englischen Gästen, dass der Winter in St. Moritz ebenso schön sei wie der Sommer. Badrutt gewinnt, die Engländer erholen sich in seinem Hotel Engadiner Kulm bestens und bleiben bis zum Frühjahr. Der Grundstein zur Wintersaison ist gelegt. Diese Legende hat nur einen Haken: Sie suggeriert, der Wintertourismus in der Schweiz habe sich fast von allein entwickelt. Dabei geht vergessen, dass es schon damals in Europa einen harten Standortwettbewerb um zahlungskräftige Kundschaft gab. Die Tatsache, dass es Johannes Badrutt gelang, Gäste bei klirrender Kälte mit einem Schlitten in ein abgelegenes Engadiner Hochtal zu locken, ist eine unternehmerische Glanzleistung.
Johannes Badrutt (1819–1889) aus Samedan (GR) ist der Begründer der gleichnamigen St. Moritzer Hoteldynastie. Nach dem Konkurs seines Vaters mit einer Baustoffhandlung, steigt Badrutt Junior in die Hotellerie ein. Er gründet das Luxushotel «Engadiner Kulm» in St. Moritz, das anfangs nur eine Pension ist. Badrutt baut diese kontinuierlich aus und steigert das Niveau des Hauses und der Gäste. Seine herausragende unternehmerische Leistung ist, dass er die touristische Wintersaison erfunden hat – und damit den Mythos St. Moritz. Ursprünglich war St. Moritz ein Bäderkurort für Sommergäste. Badrutt hat sein Hotel eigentlich am falschen Ende von St. Moritz gebaut, von den Bäderanlagen zu weit entfernt und mit dürftiger Infrastruktur. Diesen Standortnachteil wandelt Badrutt in einen Vorteil um, indem er seine Gäste aus anderen Gründen nach St. Moritz bringt. Seine Vision ist es, das Dorf als ganzjährigen Luftkurort zu vermarkten und damit sein Hotel durchgängig auszulasten. Deshalb bemüht sich Johannes Badrutt gezielt um Wintergäste, die im Schnitt länger bleiben und mehr im Hotel konsumieren. Er annonciert in englischen Zeitschriften, nutzt einen Pfarrer als Multiplikator in die englische Community.
Obschon er auch für das ärztliche Wohl seiner Gäste sorgt, soll sein Hotel kein Sanatorium werden. Lungenkranke sind zwar unter den Gästen, aber kein Zielpublikum. Intensiv fördert Badrutt das Unterhaltungsprogramm, von einer Toboggan-Schlittenbahn über Kutschfahrten durch den Schnee bis hin zu glanzvollen Bällen. So wird ein Aufenthalt im Engadiner Kulm zum gesellschaftlichen Ereignis, wo das aufstrebende Bürgertum mit europäischem Adel, Künstlern und Musikern auf Augenhöhe verkehrt. Gleichzeitig sorgt Badrutt dafür, dass die Infrastruktur stimmt und legt in Eigeninitiative ein Elektrizitätswerk an, um sein Hotel auch im Winter erstrahlen zu lassen.
Natürlich profitiert Johannes Badrutt von Rahmenbedingungen: Das entstehende Bankenwesen im Engadin, die zunehmende Mobilität in Europa, auch das Aufweichen gesellschaftlicher Grenzen spielen ihm in die Hände. Doch man kann mit gutem Recht behaupten, dass Johannes Badrutt der Schöpfer der touristischen Wintersaison in der Schweiz ist, vermutlich sogar in Europa. Dieses Wunder konnte ihm nur gelingen, weil er neben immensen Fleiss und fachlichem Wissen auch über ein starkes unternehmerisches Gespür verfügte. Die Legende mit der Wette kleidet dies in schöne Worte, sollte aber nicht davon ablenken, dass ein kluger Unternehmer am Beginn des Mythos St. Moritz steht.
Andreas Rudolf von Planta sah die Hotelpläne seins Freundes Johannes Badrutt anfänglich skeptisch: «Es ist möglich, dass Dein Umgang die Fremden befriedigt. Aber ich wasche meine Hände und will nicht schuld sein, wenn Du auch bei diesem Unternehmen caput gehst.»