Fädlerbub, Priester, Sozialpionier aus christlichem Geist
Als Sprössling einer verarmten Kleinbauern- und Weberfamilie aus dem Untertoggenburg schien vieles in Jungs Leben vorgezeichnet. Wie der Lokalhistoriker Louis Specker schreibt, hing zu dieser Zeit an diesem Ort – also in der Ostschweiz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – praktisch jedermanns Schicksal am Faden, genauer gesagt am Faden des Textil- und Stickereiwesens.
Schon als Primarschüler musste Johann Baptist Jung als Fädlerbub im Sticklokal arbeiten, das heisst, er musste die Nadeln an den Stickmaschinen einfädeln. Als Fünfzehnjähriger wurde er Handmaschinensticker. Als Sticker lebte man alles andere als üppig. Die Heimarbeit kannte keine Arbeitszeitvorschriften und das Einkommen unterlag starken Schwankungen. Soziale Absicherung fehlte. Der Dorfpfarrer hatte das geistige Potential des Buben erkannt und förderte es fortan. Neben der harten Arbeit büffelte der junge Johann Baptist sodann Lateinvokabeln. Das lohnte sich. 1878 kam er ans Kollegium in Schwyz. Ab 1882 studierte er katholische Theologie in Innsbruck. 1887 wurde er zum Priester geweiht, wurde Domvikar in St. Gallen und wirkte im späteren Leben als Religionslehrer und Domkatechet. Vor allem aber sollte Jung zusammen mit dem gut zehn Jahre jüngeren Alois Scheiwiler – später Bischof von St. Gallen – zum Gründer der christlichsozialen Bewegung in der Schweiz werden.
Schon während seiner Innsbrucker Zeit hatte sich Jung mit der Sozialen Frage befasst. Der entscheidende Impuls für seine sozialreformerische Tätigkeit war indes die Enzyklika «Rerum Novarum» (1891) von Papst Leo XIII., der später als «Arbeiterpapst» in die Geschichte eingehen sollte. Mit diesem Rundschreiben geisselte der Papst den ungezähmten Kapitalismus seiner Zeit und machte sich zum Anwalt der Abhängigen und Besitzlosen. Die Rezepte des Sozialismus zur Heilung dieser grossen Zeitkrankheit wies der Papst indes energisch zurück. Der Sozialismus galt ihm einerseits als zu materialistisch. Anderseits war er der Meinung, dass Erwerb und Schutz von Privateigentum zur Bewältigung der Sozialen Frage unerlässlich seien. Nicht der erzwungene Kollektivismus, sondern die christliche Nächstenliebe sollte die Besitzenden auf den Tugendpfad führen.
Jung, der ehemalige Fädlerbub, stellte sich fortan in den Dienst dieses päpstlichen Programms und arbeitete mit aller Kraft gegen den «Mammonismus der liberalen Wirtschaftsordnung», wie er es in einer Predigt formulierte. Überdies befürwortete er das Frauenstimmrecht. Mit Zustimmung des St. Galler Bischofs Augustin Egger rief er 1899 die ersten christlichsozialen Arbeiter- und Arbeiterinnenverbände ins Leben. Auf Initiative von Jung und Scheiwiler entstanden in diesem Rahmen christlich soziale Gewerkschaften und Selbsthilfeorganisationenwie die spätere Krankenkasse CSS. Die katholischen Arbeitervereine und die von ihnen geschaffenen Institutionen sollten nicht zuletzt einen Damm gegen die befürchtete «rote Flut» bilden. Neben der Krankenkasse entstanden Versicherungskassen für Arbeitslose, Konsumgenossenschaften, Presseorgane und vieles mehr.
Johann Baptist Jung starb 1922 in St. Gallen im Alter von 61 Jahren. Als im Jahr 1953 eine Monographie über ihn erschien, würdigte das «Liechtensteiner Volksblatt» in einer Rezension den Sozialreformer Jung als einer, der Idealist und Realist in einer Person war und der als Geistlicher das Evangelium und die soziale Gerechtigkeit nicht nur predigte, sondern auch realisierte.