Unkonventioneller Diplomat
Die Bedeutung internationaler Zusammenarbeit und die Gefahr bei deren Scheitern werden uns in diesen Tagen so bewusst wie schon lange nicht mehr. Auch die Rolle der Schweiz steht einmal mehr in der Diskussion. Ernst Rudolf Leo Bindschedler (1915–1991) war ein führender Völkerrechtsprofessor der Nachkriegszeit, ein Berater von fünf Bundesräten und eine international angesehene Autorität auf seinem Gebiet, der vor rund 50 Jahren bei der Schaffung jener «Sicherheitsarchitektur» Europas mitgewirkt hat, die gerade massiv angegriffen wird.
Ernst Rudolf Leo Bindschedler, genannt Rudolf Bindschedler, wurde am 8. Juli 1915 in Zürich geboren. Nach der Maturität studierte er an den Universitäten Zürich und Paris Jurisprudenz. Danach arbeitete er ein Jahr am Zürcher Bezirksgericht. Seit seiner Jugend war Rudolf Bindschedler ein geübter Reiter und so lag es nahe, dass er den Militärdienst bei der Kavallerie absolvierte. Als Kavallerieoffizier erlebte er den ganzen Aktivdienst mit.
Im Jahre 1943 bewarb er sich erfolgreich beim Eidgenössischen Politischen Departement (heute EDA), wo er ab 1950 den Rechtsdienst leitete. Im selben Jahr begann auch seine Lehrtätigkeit an der Universität Bern, wobei seine Spezialvorlesung das Kriegs- und Neutralitätsrecht behandelte. So konnte er auf wissenschaftlicher und diplomatischer Ebene Kriegs- und Neutralitätsrecht verfolgen und mitgestalten. Er trug wesentlich dazu bei, dass die Schweiz im Kalten Krieg als neutrale, vermittelnde Kraft wahr- und ernstgenommen wurde.
Rudolf Bindschedler hatte immer eine klare Meinung und äusserte sie zuweilen auch gar nicht diplomatisch. Seine Unabhängigkeit wurzelte in seiner Herkunft und der soliden Ausbildung, aber auch in seiner Bodenständigkeit. Er wurde manchmal als Störenfried unter den Diplomaten empfunden, denn er liess sich von der opportunistischen Geschäftigkeit in Bundesbern nicht ablenken.
Im Jahre 1961 wurde Rudolf Bindschedler von seinem langjährigen Chef, Bundesrat Max Petitpierre, zum völkerrechtlichen Rechtsberater ernannt. In dieser Funktion diente Rudolf Bindschedler fünf Bundesräten während zwanzig Jahren. Er vertrat mit Überzeugung die spätere Maxime der schweizerischen Aussenpolitik: aktive Teilnahme der Schweiz an der internationalen Zusammenarbeit und Pflege der friedlichen Konfliktregelung vor allem durch internationale Schiedsgerichtsbarkeit. Eine internationale Anerkennung erfuhr er mit der Wahl in den internationalen Ständigen Schiedsgerichtshof in Den Haag.
Den Höhepunkt seiner Karriere bildete die Leitung der schweizerischen Delegation an der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE, Vorgängerinstitution der OSZE) in Helsinki. Zwischen der Eröffnung der Konferenz 1973 und der Unterzeichnung der Schlussakte 1975 fanden die Verhandlungen in Genf statt. Delegationsleiter Bindschedler sah sich nun in der Rolle des Gastgebers mit entsprechendem Einfluss. Er nutzte den «Heimvorteil» und brachte seine Ideen zur friedlichen Streitschlichtung und anderen Themen aktiv ein, was andere Delegationen mit Befremden zur Kenntnis nahmen. Auch wenn Rudolf Bindschedler bisweilen unbequem war, so waren seine Berichte «immer Ausfluss einer sachlichen Überzeugung, die ihren Massstab an der wissenschaftlichen Strenge nahm», wie es Bundesrat Willy Spühler anlässlich des Rücktritts von Bindschedler 1980 formulierte. Rudolf Bindschedler verstarb am 24. März 1991 in Bern.